Ein Blick über die Grenze und zurück
Wir sind versucht, Gemeinsamkeiten mit unserem Nachbar Österreich zu betonen, z.B. bei der bewaffneten Neutralität, oder uns zu distanzieren, wenn es um die Verteidigungsbereitschaft geht. Interessant sind Umfragen und Interviews zur Sicherheits-, Verteidigungs- und Aussenpolitik in beiden Ländern. Fakten und Wahrnehmungen sprechen eher für Gemeinsamkeiten als für Gegensätze.
Sicherheitspolitische Entrückung
Ein Blick über die Grenze zeigt in einer Studie der Universität Innsbruck[1] vom April 2024 alarmierende Ergebnisse. Die jüngste Veröffentlichung gibt die vorherrschende Meinung zu Wehrhaftigkeit und Solidarität wieder. Unter Wehrhaftigkeit wird die Bereitschaft von Menschen verstanden, im Falle eines Angriffs zur Waffe zu greifen und das eigene Land zu verteidigen oder auch einen anderen militärischen Beitrag zur Verteidigung zu leisten. Etwas mehr als 25 % der befragten Männer und sieben % der befragten Frauen würden ihr Land im Falle eines bewaffneten Angriffs mit der Waffe verteidigen. Knapp 14 % stimmen zu, dass Österreich im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen anderen EU-Mitgliedstaat diesem mit bewaffneten Truppen beistehen sollte. 72 % der Befragten gaben an, dass sie umgekehrt durchaus erwarten, dass andere EU-Staaten Österreich militärisch verteidigen. Die mangelnde Bereitschaft zur Landesverteidigung und zur militärischen Unterstützung von EU-Partnern erklärt die Projektleitung damit, dass die österreichische Bevölkerung lange Zeit nicht mit Fragen der Sicherheitspolitik und Solidarität konfrontiert war. Als neutraler Staat sei es so zu einer "sicherheitspolitischen Entrückung" gekommen. Nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa sei man seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges davon ausgegangen, dass militärische Kriege der Vergangenheit angehörten. Im Falle Österreichs komme jedoch hinzu, dass sich Österreich als Insel wahrgenommen habe, umgeben von Nato- und EU-Staaten. In der mentalen Geografie sah sich Österreich daher weit entfernt von sicherheitspolitischen Problemen gesehen.
Nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen mangelt es laut Umfrage an Solidarität. Denn obwohl nur ein geringer Teil der Befragten bereit war, selbst zu den Waffen zu greifen, gaben gleichzeitig 47 % der Befragten an, dass sich Österreich im Falle eines Angriffs durchaus militärisch verteidigen sollte. Es wird daher argumentiert, dass die Umfrage eher auf Probleme in der politischen Bildung, der Kommunikation und der sicherheitspolitischen Debatte hinweist.
Die folgende Grafik[2] gibt einen Überblick darüber, wozu die Österreicher im Falle eines militärischen Angriffs bereit wären.
Österreich hat sich in seiner Verfassung im Bereich der bewaffneten Landesverteidigung zu mehr verpflichtet, als es einzuhalten bereit ist. Österreich hat den Status eines formal neutralen Landes, das sich auf eine Neutralität beruft, die es politisch kaum überzeugend ausfüllt und schlecht verteidigen kann. Grundsätzlich wäre es Aufgabe der Politik, dies den Bürgern ehrlich zu sagen und nach Alternativen zu suchen. Immerhin spricht sich eine Mehrheit von 74 % der Bevölkerung für die Beibehaltung der Neutralität aus; in der Schweiz sind es sogar satte 91 %.
ETH-Studie «Sicherheit 2024»
Nun wäre es zu einfach, mit dem Finger auf unsere Nachbarn zu zeigen und zu argumentieren, a) die Schweiz sei nicht in der EU, b) unsere Milizarmee sei nicht mit dem Bundesheer zu vergleichen und c) unsere Neutralität habe eine längere Tradition. Dieser Ansatz greift zu kurz. Die folgenden Ergebnisse der ETH-Studie «Sicherheit 2024»[3] zeigen Trends in der aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbildung auf.
Erfreulich ist, dass 85 % der Befragten die Schweizer Armee als unbedingt oder eher notwendig erachten. 60 % lehnen es ab, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen und den Militärdienst Freiwilligen zu überlassen. Noch knapp 10 % sind der Meinung, die Armee solle abgeschafft werden. Mit 60 % ist das Vertrauen gross, dass die Milizarmee auch in Zukunft die Landesverteidigung sicherstellen kann. Nur gerade 34 % wünschen sich eine Berufsarmee. Diese wäre in Friedenszeiten zu teuer und im Kriegsfall sowieso zu klein. 92 % der Befragten sind der Meinung, dass die Schweiz eine sehr gut ausgebildete Armee haben soll und 79 % wollen eine vollständig ausgerüstete Armee. Die Studie zeigt eine Unterstützung von 53 % für eine Annäherung an die Nato, wobei Annäherung nicht spezifisch definiert wird. 30 % der Befragten sind gegen eine Nato-Mitgliedschaft und für mehr nationale Autonomie. Die Zahlen zu den Verteidigungsausgaben sollten aufhorchen lassen. Denn 45 % finden die Ausgaben gerade richtig, 30 % finden sie zu hoch und immerhin 20 % fordern noch mehr Geld. Diese Problematik zeigt sich in den schier endlosen Diskussionen um die Erhöhung des Verteidigungsbudgets und der Schwierigkeit, einen tragfähigen Konsens bzw. Kompromiss zu finden. Der Ukrainekrieg scheint hier keinen nachhaltig positiven Einfluss auf die Armeefinanzierung zu haben.
In dieser Kolumne geht es um Selbstwahrnehmung, Erwartungen und die Kluft, die sich auftut, wenn es um die eigene Leistungsbereitschaft geht. Was die Schweiz und Österreich zu verbinden scheint, ist die Tatsache, dass die Bevölkerung beider Länder die Kriegsgefahr nach wie vor als gering einschätzt. Sie geben sich Gedankenspielen hin, die von eigenen Leistungen für die militärische Verteidigung befreien.
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